Auf dem Weg in die Dritte Heimat

Die seelische Landschaft des Ruhrgebiets wird seit jeher von zwei widerstreitenden Prinzipien beherrscht: dem der Heimat und dem des Nomadischen. Auf der einen Seite ließe sich für beinahe jedes Viertel in der schier unendlichen Ansammlung von Städten des Reviers eine eigene Geschichte des stets stolz gepflegten Lokalpatriotismus erzählen, die Ausdruck einer zuweilen besonders kleinteiligen Heimatverbundenheit ist. Auf der anderen Seite ist das Ruhrgebiet seiner Geschichte nach immer eine Region des Zu- und Durchzugs, der von außen Kommenden und, von Fall zu Fall, Weiterziehenden gewesen, die als Gastarbeiter, Migranten und Nomaden das Gebiet entlang der Ruhr auf Zeit bevölkert und seine weiten Landschaften urbar gemacht haben. Um ein Beispiel herauszugreifen: Um 1900 kommen rund 500.000 Polen ins Ruhrgebiet, ca. ein Sechstel der damaligen Gesamtbevölkerung, um in den Fabriken und Bergwerken der Kohle- und Eisenindustrie zu arbeiten. Sie begründen eigene Quartiere, Vereine, Kneipen, sogar Banken und Kirchen, sie koexistieren parallel zu anderen Bevölkerungsgruppen, ohne sich mit ihnen zu assimilieren, sind eher geduldet als erwünscht und verschwinden in der Zeit der Weimarer Republik und des Zweiten Weltkriegs teils freiwillig, teils mit Gewalt wieder Richtung Osten – nicht ohne der Region ihr Erbe zu hinterlassen, das das Gesicht des Ruhrgebiets, seine Sprache, die Namen seiner Bewohner, seine religiöse Verfasstheit verändert zurücklässt. Das Ruhrgebiet, die westlichste Region Deutschlands, besitzt spätestens seit dieser Zeit eine Art verdrängter Ost-Seele, die seine Mentalität eher auf der Ebene des Unterbewusstseins als auf der des kollektiven Gedächtnisses prägt. Ähnlich untergründig haben sich die Verschiebungen im Verhältnis von Land und Stadt in die Verfasstheit der Region eingeschrieben. Die rasante Geschichte der Industrialisierung und Urbanisierung der einstmals agrarischen Landschaften entlang der Ruhr im 19. und 20. Jahrhundert mit ihrem Auf und Ab im Rhythmus von Konstruktion und Zerstörung, von Wiederaufbau und aktueller Auflösung der Stadtbilder unter dem Verdikt desaströser Haushaltsentscheidungen hat ein komplexes Arrangement von architektonischen, geografischen und mentalitätsgeschichtlichen Lagen erzeugt, die das hybride und uneinheitliche Gesicht des Ruhrgebiets im 21. Jahrhundert formen. Dessen seelische Landschaft ist ein heterogenes Gefüge, das sich in seiner topographischen Fragmentiertheit ebenso widerspiegelt wie in seinen zahllosen und nicht selten verschrobenen Vorstellungen von Heimat und Identität. Das Revier zerfällt in ungezählte Reviere – nicht bloß im urbanen, sondern auch im symbolisch-kulturellen und psychosozialen Sinn. Die klassischen Narrative großbürgerlicher Stadtentwicklungsphantasien und kleinbürgerlicher Heimatvorstellungen haben es nicht vermocht, seine nomadisierenden Ströme,  seine wuchernden Bildwelten, seine brüchigen Topographien und die Wechselfälle seiner Geschichte, die die Landschaften des Ruhrgebiets immer wieder transformiert und umgeschichtet haben, zu vereinheitlichen. Dabei schien der Mythos von Kohle und Stahl für eine Zeit lang der Kitt zu sein, der die Region zusammenhält. Doch mit seinem Wegfall bröckelt die Fassade: das Revier zerfällt und offenbart ein Szenario von Zwischen-Städten, Passagen-Orten, sich auflösenden Zentren, wuchernden Peripherien und Ununterscheidbarkeitszonen zwischen Urbanität und Gesichtslosigkeit. Der Zerfall wird von politischen, wirtschaftlichen und medialen Uniformierungsversuchen begleitet, man ist bestrebt, dem zerbröckelnde Gesicht einen zukunftsfähigen Look zu verpassen und retouchiert es bis zur völligen Unkenntlichkeit. Wer sich mit nachlässiger Aufmerksamkeit durch das Ruhrgebiet der Gegenwart bewegt, kann leicht den Eindruck von Wiederholung, Eintönigkeit und Redundanz gewinnen. Was unterscheidet Dortmund, Bochum, Essen, Mülheim, Duisburg oder Oberhausen voneinander, wenn man durch die Innenstädte, Industrie-Areale, Einkaufs- und Entertainment-Zonen dieser Städte, von denen einige zu den größten Deutschlands zählen, hindurch streift? Auf den ersten Blick wenig. Stets stößt man auf ähnlich anmutende Betonwüsten, ähnlich strukturierte Einkaufspassagen, ähnlich durch Kultur revitalisierte und mit Natur durchsetzte Industriestätten, die, ihrer einstigen Funktion als Orte der Arbeit und der industriellen Produktion beraubt, zu Tourismus- und Event-Stätten einer Hoch- und Massenkultur, die den rauen Charme der ehemaligen Industrieorte oft romantisch verklärt, verwandelt worden sind. Als Höhepunkt der Uniformierungstendenz im strukturgewandelten Ruhrgebiet kann jedoch die Rede von der Metropole gelten, die der gigantischen Ruhr-Region ein einheitliches Etikett und eine vermarktbare Identität überzustülpen bemüht ist. Im Kulturhauptstadtjahr 2010 erreichte der Metropolen-Diskurs seinen vorläufigen inszenatorischen Gipfel – seither befinden sich die Krisengeschüttelten Städte und Kommunen der manisch beschworenen Ruhr-Metropole auf steiler Talfahrt, sind „Städte ohne Geld“, die sich in desaströsen Haushaltsplänen, über die meist an anderen Orten entschieden wird, verkörpern. Das finanzielle Loch, in das sie hinabstürzen, scheint derzeit bodenlos. In dieser Hinsicht ist jeder identifizierende Repräsentationsversuch, der aus der zerklüfteten Landschaft des Ruhrgebiets eine Marke zu machen versucht, nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern stellt der Region nolens volens ihr Armutszeugnis aus, weil er ihre Heterogenität zugunsten eines Images verdeckt. Doch ihr Reichtum liegt in ihrer Vielgestaltigkeit, in den letztlich nicht repräsentierbaren Gemengelagen ihrer nach-industriellen Landschaft. Für sie gilt in besonderer Weise, was Michel Foucault in seinem Artikel „Andere Räume“ über den Raum der Moderne gesagt hat: „Der Raum, in dem wir leben, durch den wir aus uns herausgezogen werden, in dem sich die Erosion unseres Lebens, unserer Zeit und unserer Geschichte abspielt, dieser Raum, der uns zernagt und auswäscht, ist selber ein heterogener Raum. Wir leben innerhalb einer Gemengelage von Beziehungen, die Platzierungen definieren, die nicht aufeinander zurück zu führen und nicht miteinander zu vereinen sind.“

Die dritte Heimat

Diese Gemengelage ist das, was gegenwärtig und mit Blick auf seine Zukunft für das Ruhrgebiet zu beschreiben wäre. Sie umschreibt die äußere Kontur und die innere Disposition einer Landschaft, die sich von ihren agrarischen Ursprüngen über die industrielle Transformation aktuell in einen Transitraum verwandelt hat, in dem alle, die sich in ihm bewegen, unweigerlich in den Sog einer Suchbewegung geraten: der Suche nach einer „dritten Heimat“. In einem Text über die Transformation des Ruhrgebiets in der Gegenwart schreibt die Bochumer Theaterwissenschaftlerin Ulrike Haß:

Plötzlich wurde das schwarze Gold in fossile Brennstoffe umbenannt, sein Vorkommen als endlich und sein Abbau als unrentabel bezeichnet. Seitdem änderte das Revier sein Gesicht in eines, das keins mehr ist und dementsprechend mit der hilflosen Wortschöpfung der ‚postindustriellen Landschaft‘ verknüpft wird, die sich gegenwärtig zum zweiten mal zu realisieren droht. Ohne Gesicht ist es jedoch schwer zu sprechen, jedenfalls schwieriger. Wie die zukünftige Landschaft an der Ruhr aussehen wird, weiß niemand zu sagen. Vielleicht würde etwas davon abhängen, ob sich aus dieser Landschaft ein [neuer] Chor aufmacht. Verliert der Mensch seine ZWEITE HEIMAT als das, was das Ruhrgebiet seinen Flözen abzwang, nimmt er das Territorium, in dem er geboren wurde, nur als Durchgangsstation. Er begibt sich in das Getriebe der Gegenwart. Uneinholbar entfernt er sich auf der Suche nach seiner DRITTEN HEIMAT.

Das Zitat paraphrasiert einen Essay Alexander Kluges mit dem Titel: „Dr. Mabuse, der mißglückte Heimkehrer / Was ist entterritorialisierter Geist?“ Über diese Frage referiert Kluge in Bezug auf den Roman Dr. Mabuse, der Spieler, den Norbert Jacques 1921 in der Berliner Illustrirten veröffentlicht hatte. In Dr. Mabuse erkennt Kluge die Figur des Entterritorialisierten, des Anti-Heimkehrers. Kluge schreibt: „Dr. Mabuse kommt von weit her. Er ist der Antipol des Heimkehrers. Es ist soviel Sehnsucht in ihm, daß er bei der Rückkehr in die Heimat hinausschießt ins Nichts. Er ist Antiterritorialist.“ Dieser Antiterritorialismus, der aus der Entterritorialisierung – in Mabuses Fall derjenigen des Ersten Weltkriegs – entspringt, hat viel mit der Psycho-Geografie des Ruhrgebiets zu tun. Die Sehnsucht nach Heimat, die darum so groß ist, weil die erste Heimat verloren ging, ist der Motor aller Nomaden, die ins Ruhrgebiet pilgern, um dort ihr Glück zu machen. Es ist auffällig, dass Kluge die ERSTE HEIMAT in seinen Überlegungen ausspart. Der Weltkrieg hatte sie zerstört und unzugänglich gemacht. Im Ruhrgebiet ließe sich vielleicht als ERSTE HEIMAT beschreiben, was den Herziehenden unterwegs verloren ging – all jene vergessenen Herkünfte, die Eingang gefunden haben in das Projekt, aus der ZWEITEN HEIMAT, die den Kohleflözen und der mythischen Welt der Bergwerke abgetrotzt wurde, ersatzweise eine erste zu machen. Doch untergründig läuft die verdrängte Geschichte der „ersten Heimaten“ mit, die nie restlos in der neuen aufzugehen vermögen und mit Dringlichkeit die Frage evozieren: Wo liegt das Ruhrgebiet? Dazu schreibt Ulrike Haß:

Diese Frage beschäftigt alle, sobald sie hier sind. Eine Landschaft, die sich im 19. Jahrhundert von einer dörflichen, kleinteilig landwirtschaftenden Gegend abrupt in eine vitale, dreckige Industrielandschaft verwandelte, in das berühmte Land aus Kohle, Koks und Stahl. Hier war man auf besondere Weise mit dem Wissen um Flöze, Methangase und Dunkelheiten verbunden, pflegte es, eigensinnig und lächerlich zugleich, in den ARBEITERSIEDLUNGEN und ihrem ritualisierten Alltag, ließ wenig von den Mythen, die unter Tage spielen und sich im Bündnis mit den Sternen wähnen, nach außen dringen. Es würde sowieso niemand verstehen. Es gibt einen Satz von Karl Marx: „Die Landschaft der Industrie / Ist das aufgeschlagene Buch der menschlichen Psychologie!“ Welche Landschaft? Die zerstörte Landschaft der Industriestädte von 1945? Die Stahlwerke von Krupp und Thyssen? Die Zechenschließungen mit ihren langen Wellen und Brandungsköpfen? Wie stellt man dies als das aufgeschlagene Buch der menschlichen Psychologie dar?

Das Ruhrgebiet in seiner heutigen Gestalt entsteht in der Zeit der Industrialisierung, in der die Bewegungen und Prozesse des „entterritorialisierten Geistes“ in Gang gesetzt sind, in der Arbeit, Krieg und Modernisierung Menschen, Waren, Technik, Informationen und Verkehr in Bewegung setzen und aus ihren Herkunftsorten herauslösen. Das Ruhrgebiet trotzt, im Kontrast zur allgemein sich steigernden globalen, die Territorien überschreitenden Bewegung, seinem Territorium, seinen Revieren und seinem Boden genügend mythisches Potential ab, um seine ZWEITE HEIMAT zu begründen. Für eine Zeit scheint diese ZWEITE HEIMAT die Erste zu sein: Das Revier erhält sein zerfurchtes Gesicht zwischen dem schwarzen Gold unter Tage und den mit diesem Gold in Korrespondenz stehenden Sternen, in der vertikalen Verbindung der Tiefen der Erde mit dem Himmel. Dazwischen entstehen Rituale und Mythen eines eigenwilligen Alltags, der bis heute die Legende des Ruhrgebiets, der Region der Arbeiter, der Kohle und der Industrie wach hält. Doch mit der totalen Zerstörung der Städte des Reviers im Zweiten Weltkrieg, mit der Schließung der Zechen nach dem Krieg und mit der Einebnung der alten Bergarbeiterwelt geht diese ZWEITE HEIMAT, die „das Ruhrgebiet seinen Flözen abzwang“, Stück für Stück verloren, verschwindet in der unsichtbaren Landschaft, die jetzt vollends vom Geist der Entterritorialisierung und Globalisierung beherrscht wird. Fortan machen sich die Menschen des Reviers auf die Suche nach einer möglichen DRITTEN HEIMAT, sie nehmen das Territorium, in dem sie angelandet waren oder  geboren wurden, als Durchgangsstation, als Transitraum. Doch führt ihr Weg ins Ungewisse und die Sehnsucht nach den verlorenen Heimaten bleibt präsent, ihre Erbschaften strahlen aus, auch wenn sie nirgends mehr wirklich zu fassen sind. Das Ruhrgebiet ist ortlos geworden, es ist ein Markt unter vielen, der sich mit neuen Ressourcen im Getriebe der Gegenwart zu positionieren versucht.  Dieser Versuch in ort- und gesichtslosen Landschaften lässt sich kaum noch als „Buch der menschlichen Psychologie“ lesen. Doch seine innere Dramatik wird nicht kleiner, je unsichtbarer sie wird, wie man an lapidaren Schlagzeilen wie „Oberhausen: Die ärmste Stadt Deutschlands“ oder derzeit am verzweifelten Protest der Bochumer Opelaner ablesen kann. Der Protest hat aber keine Adresse mehr, die sich einfach verkörpern ließe. Die  zunehmende Gesichtslosigkeit, der man sich damit gegenüber findet, entspringt einem größeren Szenario, das von „unberechenbaren Stürmen“ durchzogen wird. Im Vorwort zum Programmbuch der Recklinghäuser Ruhrfestspiele 2004 unter der Intendanz von Frank Castorf findet man eine sehr treffende Beschreibung der aktuellen Lage:

Auf der Reise ins Nirgendwo, auf der wir uns nach dem politischen Untergang des Ostens zwar irgendwie westwärts, aber ansonsten nicht näher bestimmbar bewegen, zweihundert Jahre gescheiterte Ideologie- und Industriegeschichte bleischwer im Nacken und vor uns nur mehr „The Great Wide Open“, den Sog der Ungewissheit – auf dieser unaufhaltsamen Reise also, diesem schleppenden, staubigen, dreckigen Treck, stehen wir alle doch zumeist nur noch so da, einen Finger feucht nach dem Wind gestreckt und einen anderen fummelnd am Navigationssystem, und ringen, allein mit all den anderen, gemeinsam um Fassung. Stochern im Dunkeln. Woher wir kommen: das kann man vielleicht gerade noch an unserem großen Gepäck erkennen. Wohin wir müssen: gibt es nicht mehr; ist geschlossen, abgebrannt, abgeschafft. Der Weg sei nicht zu Ende, wenn das Ziel explodiert, hat Heiner Müller dazu gerade noch sagen können. Dann war das 20. Jahrhundert vorbei. […] Wie stellen wir uns den Westen vor? Wir begeben uns auf Spurensuche in dieser Region. Sie liegt geografisch auf einer von Ost- und Westdeutschland aus jeweils verlängerten Achse: zwischen der polnischen Herkunft der ersten westdeutschen Wander-Bergarbeiter auf der Suche nach besseren Arbeits- und Lebensbedingungen einerseits und dem nordamerikanischen Traum eines unendlichen sozialen Einzelaufstiegs auf der anderen Seite. Unser Traum-Bild vom Westen, von Wohlstand und Selbstverwirklichung, Angst- und Bewegungsfreiheit – wie sehr spiegelt es unsere privaten Befürchtungen und Sehnsüchte und kompensiert unser unbefriedigtes Bedürfnis nach kollektiver Sinnstiftung, nach gemeinschaftlichen Zielen, nach Arbeit in, für und an Gesellschaft? Die Idee vom Melting Pot, der Vermischung von zersplitterten Herkünften und verloren gegangenen Identitäten zu einer neuen Bevölkerung oder gar Nation wie etwa den USA – schürt sie eher unsere Sehnsucht nach Neuanfang unter anderen Prämissen und Integration scheinbar unüberwindbarer Widersprüche, oder doch nur unsere Angst vor Verlust von Besonderheit und Rest-Identität, von letzter Sicherheit? „Diese Prozesse, in denen Geografie sehr durcheinander gerät durch in ihrer Richtung kaum berechenbare Stürme, interessieren uns“, sagt Frank Castorf. „Wir bewegen uns in einem Transitraum.“

Eine amerikanische Geschichte im Zeitraffer

Am Beispiel der Stadt Oberhausen lässt sich die von Castorf beschriebene Entwicklung wie im Zeitraffer erzählen. Mitte des 19. Jahrhunderts, pünktlich zum Eintritt ins industrielle Zeitalter, beginnt in Oberhausen alles mit öder Heide und Wüstenei, über die der Schriftsteller Levin Schücking 1856 schreibt: „Die Eisenbahn aber führt uns weiter nach Oberhausen, mitten in eine Landschaft, welche eine Staffage von nordamerikanischem Gepräge hat: wir befinden uns in ödester Sandgegend, die kaum dürftigen Fichtenaufschlag nährt, in einer wahren Urheide; mitten in ihr erblicken wir die Schöpfungen des modernen Kulturlebens, eben aus dem Boden gestiegene Stationsgebäude, Häuser, Hotels, Fabriketablissements, und ehe viel Zeit verfließt, wird mit amerikanischer Schnelligkeit eine Stadt aus diesen Sandhügeln aufwachsen, das verbürgt der Knoten der Bahnlinien, der hier sich schürzt.“ Und Schücking sollte recht behalten. Gewissermaßen aus dem Nichts entsteht Oberhausen als ein gigantisches Industriedorf, dessen Anspruch auf städtische Standards von den bürgerlichen Schichten seiner rasch wachsenden Bevölkerung beharrlich vorangetrieben wird und zahlreiche Erfolge zeitigt. Dabei ist die Besiedelung der „Great Wide Open“, die die „öde Heide“ zu Beginn zu sein scheint, eine disparate, sprunghafte, den Bedürfnissen der Industrie folgende Entwicklung, die verschiedene Problemlagen zeitigt. Die prominentesten darunter sind Oberhausens „Verspätung“ – die Heinz Reif in seiner großen Studie „Die verspätete Stadt“ als Problem der Nachträglichkeit der städtischen Verhältnisse zur Industrieentwicklung detailliert beschreibt –; Oberhausens „Begrenzungen“, die dazu führen, dass die Besiedlung der einstigen Heide und die Expansion der Stadt dort stoppen, wo Mülheim oder Essen beginnen, so dass Oberhausen heute im Grunde eine Stadt ohne Umland ist; und nicht zuletzt Oberhausens „fehlende Mitte“, die im Laufe der Geschichte für immer neue Zentrumskämpfe und Mitten-Behauptungen sorgt. Die „Polyzentralität“ ist dabei nicht das schlechteste Ergebnis, das Oberhausen vorweisen kann, wenn auch die Suche nach Stadtmitten noch in kleineren Stadtteilen zuweilen absurde Züge trägt. Die polyzentrische Entwicklung, die von der Industrie und den Mythen und Ritualen der ZWEITEN HEIMAT zusammengehalten wird, ist über weite Strecken dieser jungen und doch (zu) späten Stadt durchaus als Erfolgsgeschichte zu begreifen. Doch mit dem Wegfall der Industrie und dem Ende der Gutehoffnungshütte treten die strukturellen Schwierigkeiten umso deutlicher zu Tage. Nichts kann den Verlust der heimlichen alten Mitte, der Zechen und Stahlwerke, auffangen. Keine Universität, kein Technologiezentrum, kein reiches Umland tritt in Oberhausen an die Stelle der alten gewachsenen Industrielandschaft. Oberhausen hat alles auf eine Karte gesetzt – und diese Karte zeigt nun ein Gebiet an, das dabei ist, sich im Getriebe der Gegenwart aufzulösen. Das neue, das aktuelle „amerikanische Gepräge“ führt vielleicht nicht gleich zurück in die „öde Heide“. Doch es produziert Wüsten ganz andere Art und stellt, erneut in Pionier-Mission, einmal mehr unter Beweis, dass der Versuch, in Oberhausen die Mitte festzulegen, zum Scheitern verurteilt ist und unabsehbare Folgen zeitigt. So hat Mitte der 90er Jahre Oberhausen als erste Stadt in Deutschland die Zeichen der Zukunft richtig erkannt und abermals alles auf eine Karte gesetzt – auf dieser Karte sollte jetzt ein gigantisches Einkaufszentrum, das CentrO, zur identitätsstiftenden Marke und neuen (ökonomischen) Mitte avancieren. Was seinerzeit in der Presse bereits mit dem sprechenden Titel „Mord an der Stadt“ kommentiert wurde und sich im Verlauf als katastrophale städtische Fehlplanung (wenn auch als wirtschaftliche Teilerfolgsgeschichte) entpuppte, gibt gleichzeitig der neuen Zeit ihr Gepräge und wird zum Standard der Großstadt-Entwicklung zu Beginn des 21. Jahrhunderts: die Privatisierung öffentlichen Raums zwecks Errichtung von Ersatzstädten im Zentrum der alten Städte, in denen nach Vorbild amerikanischer Malls eine Phalanx von Entertainment- und Shopping-Einrichtungen die Bürger, die jetzt Kunden heißen, zum Kommen, Kaufen und Konsumieren einladen. Damit kehrt der antike Marktplatz ins Zentrum des öffentlichen Lebens zurück, freilich als grell blinkendes Ufo, in dem Demokratie eine Frage des Konsumverhaltens ist und aus dem ausgeschlossen bleibt, wer dazu nichts anzubieten hat. Perfider Weise wirbt das CentrO auf seiner Website selbst mit den Kategorien der alten Stadtidee: „Mehr Stimmung als im Alten Rom“ (Arena Oberhausen) oder „Oberhausen liegt direkt am Meer“ (Sea Life Oberhausen) lädt zum „Centrotainment“ ein und klebt mit zynischer Treffsicherheit ein schlecht klebendes Pflaster auf die drängendsten Wunden der Stadt: dass sie eben keine in alten Steinen und öffentlich-demokratischen Einrichtungen sich manifestierende Metropole der abendländischen Kultur ist und schon gar nicht am Meer liegt, sondern eine mit (Zahn-)Lücken und Schrammen versehene, in Auflösung befindliche Zwischen-Stadt auf der Suche nach ihrer DRITTEN HEIMAT: ein Transitraum, unterwegs von einem „wilden Westen“ zu einem nächsten, unbekannten, mitten in „Prozessen, in denen Geografie sehr durcheinander gerät durch in ihrer Richtung kaum berechenbare Stürme“, wie es Castorf ausgedrückt hat (man denke nur an die aktuelle Eurokrise). Die Kampagne „Ich bin CentrO“ vermarktet damit in Marketing gerechter Vulgär-Form, was seit jeher eine der am drängendsten diskutierten Fragen der Oberhausener Stadtgeschichte gewesen ist. Das erinnert mit plastischer Beispielhaftigkeit an Heiner Müllers Formulierung, dass „die Spirale der Geschichte die Zentren ruiniert, indem sie sich durch die Randzonen mahlt.“ Und Richard Sennett beschreibt in „Civitas“ mit Blick auf die moderne Stadt, was auch als krisenhafte Diagnose der seelisch-geografischen Landschaft und der urbanen Gemengelage Oberhausens heute gelten mag:

Aus dem, was einmal Erfahrung öffentlicher Räume war, sind heute, so scheint es, schwebende Vorgänge in der Psyche geworden. Die von Menschen erfüllten Räume der modernen Stadt inszenieren den Konsum und sind ganz auf ihn beschränkt, oder sie sind dem touristischen Erleben vorbehalten und inszenieren dieses. Die Verödung und Trivialisierung der Stadt als Schauplatz des Lebens ist kein Zufall. Jenseits aller ökonomischen und demographischen Ursachen für die Neutralisierung der Stadt gibt es eine elementare, im Grunde genommen ’spirituelle‘ Ursache dafür, dass die Menschen bereit sind, einen derart nichtssagenden Schauplatz für ihr Dasein hinzunehmen. Im Erscheinungsbild der Städte spiegelt sich eine mächtige, weitgehend unbeachtete Angst davor, sich ‚preiszugeben‘. Das kulturelle Problem der modernen Stadt besteht darin, wie man diese unpersönliche Umgebung zum Sprechen bringen kann, wie man ihr ihre Ödnis, ihre Neutralität nimmt.

Bild-Räume zur „Stadt der Guten Hoffnung“

Wenn man davon ausgeht, dass wirkliche Hoffnung nur dort besteht, wo die Lage aussichtslos ist, dann ist für Oberhausen noch nichts verloren. Was die „Stadt der Guten Hoffnung“ heute und in Zukunft sein kann, diese Frage will die Ausstellung anlässlich des 150jährigen Stadtjubiläums in den Raum stellen. Diese Formulierung ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn die Ausstellung der Oberhausener Bild-Archive überschreitet konventionelle Formen der Bild-Präsentation. Sie erzeugt vielmehr bildlich-räumliche Arrangements, in denen die Geschichte der Stadt sich zeigen kann. Bilder zu verräumlichen bedeutet, ihnen einen materiellen Status jenseits ihrer symbolischen oder dokumentarischen Funktion zu verleihen. Bilder sind Zeugen, Zeugen von Ereignissen, Momentaufnahmen, Situationen – aber auch Zeugen ihres eigenen Gemachtseins, Artefakte ihrer Zeit. Diese Artefakte werden in verschiedenen Räumen auf medientechnisch unterschiedliche Weise präsentiert. Von der großformatigen Projektion, die im Zeitalter des Digitalen die Bilder der Stadt als eine Art „Interface“ oder gar als „Interfassade“ (Paul Virilio) präsentiert, über das „Archiv der Guten Hoffnung“, das die Geschichte(n) der ERSTEN und ZWEITEN HEIMAT Oberhausens im Sinne eines Bildgedächtnisses aufarbeitet und zu archäologischen Ausgrabungen ebenso einlädt wie zu Erweiterungen des Bestandes, bis hin zu symbolisch-theatralen Arrangements, die wichtige Etappen der Oberhausener Stadtgeschichte unter Verwendung ausgewählter Raum-Objekte als szenische Settings inszenieren, will die Ausstellung Gemengelagen erzeugen, in denen die gezeigten Bilder nicht nur dokumentieren, wie es gewesen ist, sondern auch dazu einladen zu imaginieren, wie es sein könnte. Bilder sprechen nicht, sie zeigen etwas. Zum Sprechen werden sie durch die Kontexte gebracht, in denen sie zirkulieren. Wir wollen die Bilder dadurch zum Sprechen bringen, dass wir unterschiedliche Kontexte eröffnen, um ihnen darin ihre vielfältigen Bedeutungen abzulauschen. Heiner Müller paraphrasierend könnte man sagen: Wir wollen solange die Bilder und die von ihnen erinnerte Vergangenheit der ERSTEN und ZWEITEN HEIMAT Oberhausens befragen, bis sie herausgeben,was an Zukunft für eine DRITTE HEIMAT mit ihnen begraben, verdrängt, vergessen wurde. Diese Archäologie bzw. Genealogie einer DRITTEN HEIMAT lässt sich nur mit vereinten Kräften produzieren. Wie hatte Ulrike Haß geschrieben: „Vielleicht würde etwas davon abhängen, ob sich aus dieser Landschaft ein [neuer] Chor aufmacht.“ Ein Chor, der sich preisgibt, der sich nicht zufrieden gibt mit dem, wie es heute ist, der ergründen will, wo in den Rissen dieser heterogenen Landschaft, die er bewohnt, die Hoffnung nistet. Wie diese aussieht, wie die zukünftige Landschaft des Ruhrgebiets aussehen wird, lässt sich schwer prognostizieren. Eines jedoch kann man mit Gewissheit feststellen: dass die Suche auf Antworten auf diese Frage in der Richtung ihrer Vielgestaltigkeit und nicht ihrer Einheit zu unternehmen ist. Denn bei aller Ungewissheit für Oberhausen wie für das Ruhrgebiet insgesamt, ob die strukturell bestehende finanzielle Armut zu beheben sein wird, liegt der Reichtum der Region als Landschaft in der Vielfalt seiner Reviere, in der Heterogenität seiner Gemengelagen, in der Uneinheitlichkeit seiner Geschichte(n), sprich: in seinem differentiellen Potential, und nicht in der spröden Logik von vermarktbaren Images. In dieser Hinsicht ist der Polyzentralismus Oberhausens eher als Chance denn als Bürde zu begreifen. Oberhausen kennt sich aus mit pluralen Lagen und krisenhaften Szenarien. Einen späten Satz seines viel zu früh verstorbenen großen Sohnes Christoph Schlingensief paraphrasierend, müsste das Zukunftsprogramm des Reviers lauten: VON OBERHAUSEN LERNEN!  Institutionen wie das LVR Industriemuseum, das Theater Oberhausen, die Oberhausener Kurzfilmtage und andere mehr sind deshalb lebensnotwendige Einrichtungen dieser Stadt, weil sie die Räume für dieses etwas andere Lernprogramm, das eine „Arbeit an der Differenz“ (Heiner Müller) erfordert, eröffnen. Und weil sie Kontexte für die beschriebene Suchbewegung schaffen, ohne die die Frage, wie wir zusammen leben wollen, wie sich ein zukünftiger Chor bilden könnte, der etwas vom alten Verständnis der Stadt als einem Raum des Gemeinwesens zu artikulieren oder neue, andere, zukünftige Räume und Existenzweisen zu imaginieren vermöchte, gar nicht mehr gestellt werden kann. Im Sinne einer Einladung zur kollektiven Sammlung möglichst vieler Versionen dieser Zukunft, die die Ausstellung in Kollaboration mit ihren Zuschauern zutage fördern will, möchten wir hier zum Schluss eine Version optional vorstellen, die wir am Ende von Michel Houellebecqs neuem Roman mit dem passenden Titel „Karte und Gebiet“ entdeckt haben. Houellebecq lässt darin seinen Protagonisten, den Künstler Jed Martin, zu einer Retrospektive seiner Werke ins Ruhrgebiet kommen. Die Beschreibung seines Gangs durch die Ruhr-Landschaft der Zukunft offenbart dabei eine Hoffnungsversion, die auf die Gründungssituation Oberhausens zurückverweist – nämlich auf die „öde Heide“, die, mancher Lesart zufolge, gar nicht so öde, sondern vielmehr eine „grüne Wiese“ gewesen sein soll:

Etwa dreißig Jahre zuvor hatte Jed eine Reise ins Ruhrgebiet unternommen, wo eine große Retrospektive seiner Werke stattfinden sollte. Von Duisburg bis Dortmund und von Bochum bis Gelsenkirchen waren die meisten ehemaligen Stahlwerke in Freizeitzentren verwandelt worden, in denen Ausstellungen, Theatervorführungen und Konzerte veranstaltet wurden, und gleichzeitig bemühten sich die Kulturinstanzen, einen industriellen Tourismus ins Leben zu rufen, der die Nachbildung der Lebensweise der Arbeiter zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Rahmen hatte. Tatsächlich glich die ganze Gegend mit ihren Hochöfen, Abraumhalden, stillgelegten Bahngleisen, auf denen Güterwagen endgültig verrosteten, und Siedlungen mit blitzsauberen, identischen kleinen Häusern, die manchmal über einen kleinen Gemüsegarten verfügten, einem Museum für das erste Industriezeitalter in Europa. Jed war damals beeindruckt von den bedrohlich dichten Wäldern, die nach knapp hundert Jahren der Untätigkeit die Fabriken umgaben. Nur jene, die ihrer neuen kulturellen Bestimmung angepasst werden konnten, waren saniert worden, die anderen verfielen allmählich. Diese industriellen Kolosse, in denen sich früher der Großteil der deutschen Produktionskapazität konzentriert hatte, waren inzwischen verrostet oder halb eingestürzt, Pflanzen nahmen von den ehemaligen Werkstätten Besitz, überwucherten die Ruinen und verwandelten das Ganze nach und nach in einen undurchdringlichen Dschungel.

[Erschienen in: Stadt der Guten Hoffnung. Bilder aus Oberhausen, Katalog zur Ausstellung, Münster: Aschendorff Verlag 2012.]